In einem weit entfernten Reich, verborgen hinter uralten Bergen und endlosen Nebelfeldern, lag der Schattenwald – ein düsterer Ort, an dem sich kaum ein Wanderer je hineinwagte. Dort lebten zwei berüchtigte Diebe: Lysira, eine listige Elfenfrau mit silbernem Haar, und Borran, ein schweigsamer Troll mit Händen groß wie Bratpfannen. Gemeinsam waren sie unter dem Namen Die Schattenklinge berüchtigt, denn ihre Beutezüge waren ebenso elegant wie gnadenlos.
Eines Nachts jedoch, nachdem sie das goldene Medaillon der Königin von Aeloria gestohlen hatten, schnappten die Schattenjäger der Krone sie in einer blitzenden Falle aus Licht und Magie. Getrennt voneinander erwachten sie in zwei Kristallzellen, tief im Verlies des Hohen Turms.
Ein Wächter trat an Lysira heran – seine Rüstung flüsterte Geheimnisse aus kaltem Eisen. „Dein Partner sitzt in der Kammer nebenan. Wenn du gestehst und ihn verrätst, gehst du frei. Er aber wird fünf Jahre in den Kristallkerker verbannt. Wenn ihr beide gesteht, bekommt ihr jeder drei Jahre. Doch... wenn ihr beide schweigt, nur ein Jahr. Was wirst du tun?“
Zur gleichen Zeit hörte Borran dieselben Worte. Der Troll kratzte sich am Bart, dachte an den langen Wald, das Knistern des Lagerfeuers, das Schnurren von Lysiras Katze. Doch was, wenn sie ihn verriet?
Lysira, in ihrer Zelle, blickte auf ihre Kette – ein Geschenk von Borran aus geschnitztem Eichenholz. „Vertraust du ihm?“ fragte ihre innere Stimme. „Oder rettest du dich selbst?“
Im Schattenwald hatte ihre Zusammenarbeit stets funktioniert – Blicke, Gesten, unausgesprochene Pläne. Aber jetzt? Jetzt trennten sie Kristallwände, und das einzige, was blieb, war... Vertrauen.
Die Entscheidung fiel in einem stillen Moment.
Später, im großen Urteilssaal, traten beide Gefangene vor die Hohe Richterin, deren Augen wie Sternennebel funkelten. Sie hob die Hand.
„Beide... haben geschwiegen.“
Ein Murmeln ging durch den Saal.
„Ein Jahr – keine Minute mehr. Die Schattenklinge ist gebrochen, aber ihre Ehre bleibt bestehen.“
Als sie nebeneinander aus dem Turm schritten, schweigend, aber mit einem kaum sichtbaren Lächeln auf den Lippen, wusste jeder: Im Spiel der Schatten hatte nicht List gesiegt – sondern Vertrauen.
Und irgendwo, tief im Schattenwald, flackerte wieder ein Feuer.
aus: Blindes Vertauen liebender Menschen