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23. Juli 2022

Ein unvergessener Abend

 

Gestern Abend im Theater. Die Stuhlauslastung ist, glaubt man an die Aussagekraft einer Excel-Datei, zu 100-Prozent an diesem Premiere-Abend erfüllt. Auf der Bühne läuft "Stella" vom alten Herrn von Goethe. Eine Liebesschnulze aus dem 18.Jahrhundert. Eigentlich kein Stück zum Besprechen. Eine Dreiecksbeziehung, in der geknutscht, gestritten und sich getrennt wird. Ibasta. Im Grunde richtig langweilig für den Menschen des 21. Jahrhunderts. Die Story lockt die heutigen Liebesmenschen doch nicht mehr aus der Reserve. Blickt man in die Boulevardblätter der Gesellschaft, hat der Zuschauer dieses Schauspiels fast Mitleid mit den Menschen vergangener Jahrhunderte. Diese Beschränkungen, diese Gängelungen, diese Prüderie - möchte man laut auf die Bühne schreien. Was tut ihr den Bürgern mit euren gesellschaftlichen Vorstellungen von Zusammenleben bloß an! Seit ihr denn alle verrückt geworden! Goethe selbst hat sich privat übrigens nichts vorschreiben lassen. Es hat geliebt - wen und soviel er wollte. Ibasta.


Das Stück ist aus. Die Besucher strömen aus dem Theatersaal. Nur ein paar verweilen noch an der Bar, nehmen ein Getränk zu sich und schwadronieren über das Dargebotene. Viel Gutes ist über die Inszenierung nicht zu hören. Klare Botschaft – vor allem bei Mitsechszigern: „Stella“ beschäftigt uns nicht mehr. Auch die Zeit von Goethe ist vorbei. Wumms. Wer hätte das gedacht, nun hält sogar der deutsche Bildungsbürger gesetzten Alters den wohl bekanntesten Dichter und Denker des Landes für überholt, abgelaufen und nicht mehr bühnenreif. Ich und mein Begleiter sind schockiert. Das hätten wir nicht erwartet.

Sind es doch Sprache, das Erkennen von gesellschaftlichen Widersprüchen und das Offenlegen von Tabus, die für die Bühnenreife eines Stückes sprechen. Sicher, auch wir üben Kritik. Aber Goethe deshalb aus dem Theaterraum zu bannen – geht entschieden zu weit. Was habt ihr Kritiker während eurer Schulzeit im Deutschunterricht eigentlich gelernt, möchte ich diese Theatergäste umgehend fragen. Wie könnt ihr uns den Goethe so beleidigen? Was bildet ihr euch ein? Stimmt doch, ihr bornierten Bildungsbürger sitzt abends lieber mit der Tochter oder dem Sohnemann auf dem Sofa bei 3nach9 und plaudert heiter über das eurige aufregend dargestellte aber doch so langweilige Familienleben. Pe.

Mein Begleiter spürt mein Bedürfnis zum munteren Dialog, hält mich zurück. „Mach dir nichts draus, Stella, ist doch egal. Hauptsache uns hat es gefallen. Irgendwie hat er Recht. Ich breche mein kommunikatives Vorhaben zum Sturm- und Drangdialog ab. Stattdessen schlendern wir weiter in den nahegelegenen Weinkeller. Proppe voll mit Theaterleuten. Die Luft ist unangenehm abgestanden hier unten - die Ausgelassenheit hingegen mehr als befreiend, beinah erfrischend. Es kommt mir plötzlich so vor, als würde ich im offenen Dachstuhl mit kühlender Zugluft stehen, in dem es bis in den Keller Luftbläschen tropft. Gleichzeitig reicht mir und meinem Begleiter ein aufmerksamer Kellner über die Kellertheke einen weißen Tropfen im Glas. „Eine französische Rebe. Santé, ihr Lieben.“ Wir greifen zu.

Mit der Rebe in der Hand schauen ich und mein Begleiter uns ein bisschen unter den Gästen um und finden rasch unsere Akteure der Abendvorstellung wieder. Schau, da sind Stella, Cecilia und Fernando. Umrahmt von einer Schar von Theaterleuten, die zur Premiere-After-Show gekommen sind. Wir beobachten sie ein wenig. Sie schütteln Hände, busseln hier und da, winken und strahlen über Glückwünsche und Gratulationen. Zumindest scheint die Inszenierung denen hier unten im Gewölbekeller zugefallen. Nach unserem sechsten Weinglas hat sich die ausgelassene Stimmung der Theaterleute auf mich und meinen Begleiter übertragen. Wir rocken mit zur lauten Musik, schwingen die Hüften und reißen die Arme in die Luft. Die Temperatur hat gefühlt fast das Niveau eines Saunabesuchs erreicht. Neben uns tanzen Cecilia und Fernando auf den Song „The Winner takes it all“. Eben noch auf der Bühne haben sie heftig miteinander gestritten, nun liegen sich die zwei in den Armen und knutschen. Es sieht besser aus als knutschen. Aber ich finde keine Worte für das, was ich sehe. Protagonistin Stella tritt auf. Umschlingt die Liebenden und knutscht mit Cecilia weiter. Fernando hat Pause. Aber die ist nur von kurzer Dauer. Beherzt greift er nach der Theater-Figur „Stella“, reicht ihr sein Gläschen zum Nippen. Danach geht die Knutscherei weiter. Jetzt kleben die Münder von Stella und Fernando aneinander. Das hier ist etliche mal besser als die Bühneninszenierung. Ich glaube, das liegt daran, weil ich und mein Begleiter direkt danebenstehen. In Reihe 21 wirkt das nun mal nicht rechtecht.


So und jetzt seit ihr dran, den Hypertext weiterzuschreiben.


Gern sollten die Worte rein:

Strohhalm

Steuer

toxischer Club

Depp

eigentlich

Fliegen

Ex

Doppelagent

im Auftrag

l M a a

Künstlerleben

rien e va blue




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