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17. Juli 2019

Europa - in der Cloud gefangen

Cloud-Dienste sind heute unverzichtbar, doch der Markt ist fest in der Hand amerikanischer und chinesischer Konzerne. Das kann sich schnell rächen, warnen Fachleute. Gibt es einen Ausweg?

In den frühen 1960er Jahren brummte die Wirtschaft in Deutschland. Mit dem „Wirtschaftswunder“ hatten auch Steuerberater Hochkonjunktur. So sehr, dass sich die Kanzleien fragten, wie sie die ganzen Daten ihrer schnell wachsenden Kundschaft bewältigen sollten. Rettung verhieß das Stichwort „Elektronische Datenverarbeitung“. Aber Computer waren damals schrankgroße Geräte, unbezahlbar für einen Einzelnen. In Nürnberg fand man eine clevere Lösung. Dort gründete sich eine Genossenschaft namens Datev, deren Mitglieder gemeinsam die Dienste eines IBM-Service-Rechenzentrums nutzten. Die Organisation wuchs schnell. 1969 richtete sie im Beisein des damaligen Bundesfinanzministers Franz-Josef Strauß ihr eigenes Rechenzentrum mit vier Großrechnern und sechs Druckern ein.

Auch wenn sich der Begriff erst kurz nach der Jahrtausendwende verbreitete: Aus moderner Sicht kann man die Datev als einen Pionier des Cloudcomputings betrachten, der heute in gigantischem Stil betriebenen Auslagerung von Daten und Diensten in auswärtige Rechenzentren. Und die überraschenden Parallelen gehen noch weiter. Dass die Datev damals ihrem amerikanischen Anbieter IBM den Auftrag entzog und in die eigenen deutschen Hände nahm, ist eine Entwicklung, die sich in naher Zukunft hierzulande und in ganz Europa wiederholen könnte. Wenn auch aus ganz anderen Gründen als damals. Heute geht es zwar auch um mehr Effizienz, aber vor allem geht es um Sicherheit. Die Sorgen wachsen, ob im Cloud-Geschäft dominante Nationen wie die Vereinigten Staaten diese auch gewährleisten.




Zu den größten Bedenkenträgern gehört der einstige Vorstandsvorsitzende der Software AG, Karl-Heinz Streibich. Im Gespräch mit der F.A.Z. äußert sich der langjährige Manager des zweitgrößten deutschen Softwarehauses alarmiert: „Auf dem Markt fehlen deutsche und europäische Anbieter. Wir sind abhängig von den USA und China.“ Diese Abhängigkeit im Cloud-Bereich führe zu einem Klumpenrisiko für Deutschland und Europa. Mit Blick auf die von Donald Trump abgelehnte Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland malt Streibich ein düsteres Szenario: „Können wir ausschließen, dass eines Tag gedroht wird, die Cloud-Dienste quasi zu kappen, wenn Deutschland nicht die Nord-Stream-2-Leitung ebenfalls kappt?“

Verdopplung bis 2022

Streibich mahnt deshalb die „digitale Souveränität“ Europas an und eine „konzertierte Aktion“ des Kontinents: Eine „föderale, verteilte Cloud-Infrastruktur, aufbauend auf vorhandenen Rechenzentrumsstrukturen in Europa, könnte eine Lösung sein“, sagt der IT-Profi, der in zahlreichen Aufsichtsräten sitzt und als Präsident die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) leitet. Aus Berlin spürt der Kritiker Rückenwind: „Die Verantwortlichen in der Politik sind sich sehr bewusst, wie wichtig technologische Souveränität ist und wie viel wichtiger sie im KI-Zeitalter noch werden wird.“







Tatsächlich demonstriert Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier immer wieder, dass er sehr ähnlich denkt. Der Ressortchef stört sich schon seit längerem an der Abhängigkeit deutscher und europäischer Unternehmen von den großen amerikanischen Internetkonzernen, wenn es darum geht, große Datenmengen zu speichern und zu verarbeiten. Und so spielte das Thema Cloud auch während seines Besuchs in Amerika in dieser Woche eine wichtige Rolle. „Deutschland hat den Anspruch auf technologische Souveränität, gemeinsam mit seinen europäischen Verbündeten“, sagte Altmaier im Streibich-Duktus. Bei seiner Tour durch die Vereinigten Staaten machte der CDU-Politiker Abstecher dorthin, wo solche Botschaften wahrgenommen werden. Den Auftakt bildeten zwei Tage in San Francisco und im Silicon Valley. Dort besuchte Altmaier Unternehmen wie Google und Apple. Anschließend ging es nach Washington.

Altmaier formulierte dabei auch seine Vorstellungen, wie Europa und Deutschland in der immer stärker vernetzten Sphäre nicht abgehängt oder gar abgekoppelt werden sollen. „Die digitale Welt eignet sich nicht für nationale Schutzzäune und Reservate“, räumte er in San Francisco ein. Trotzdem sei es wichtig, dass Cloud-Lösungen nicht nur in den Vereinigten Staaten und in China entstünden, sondern eben auch in Deutschland. „Wir müssen Angebote machen für Unternehmen, die ihre Daten sicher und verlässlich speichern wollen, mit einem hohen Niveau an Datenschutz für alle Beteiligten.“ Europa, so Altmaiers Hoffnung, könne mit seiner Datenschutzgrundverordnung zum Vorbild für die Amerikaner und Chinesen werden. „Wir wollen erreichen, dass sichere Datenverarbeitung wieder mehr in Europa stattfindet“, sagte Altmaier.


Es wäre zu wünschen – zumal das Cloud-Geschäft in den kommenden Jahren Wachstumsraten aufweist wie kaum ein anderer Zweig der IT-Industrie. Das Marktforschungsunternehmen Gartner hat im April in einer Studie Zahlen vorgelegt. Demnach dürfte sich das globale Angebot mit öffentlichen Cloud-Services bis 2022 fast verdoppeln. Und das, obwohl die Industrie längst der Nische entwachsen ist und dreistellige Milliarden-Dollar-Umsätze im Jahr aufweist. Zwischen 2018 und 2022 dürften sich die Erlöse den Prognosen zufolge fast verdoppeln – von 182,4 auf 331,2 Milliarden Dollar. Im laufenden Jahr wird mit einer Wachstumsrate von 17,5 Prozent gerechnet. „Cloud-Dienste erschüttern definitiv die Industrie“, sagt Gartner-Vizepräsident Sid Nag. „Was wir heute sehen, ist aber erst der Anfang.“

„Was wir heute sehen, ist aber erst der Anfang“
Cloud ist dabei nicht gleich Cloud. Sie wird in „Schichten“ angeboten, die drei unterschiedliche Servicekategorien umfassen. SaaS („Software as a Service“) bedeutet: Kunden müssen Anwendungen nicht mehr kaufen, installieren oder aktualisieren. Sie greifen via Webbrowser direkt auf die Programme zu. PaaS („Platform as a Service“) heißt: Über eine Cloud-Plattform und mit Werkzeugen können Entwickler eigene Cloud-Anwendungen erstellen. Was der Laie gemeinhin unter dem Begriff „Cloud“ versteht, fällt in die grundlegende Kategorie IaaS („Infrastructure as a Service“). Dabei mieten Unternehmen die IT-Infrastruktur, zum Beispiel Server, Netzwerke, Datenspeicher und Betriebssysteme.

So bequem es ist, auf diese Weise die eigene physikalische IT praktisch komplett auszulagern, so risikoreich kann der Schritt sein. „Denn Sie haben als Nutzer dadurch keinerlei Einfluss auf die Verfügbarkeit des Dienstes sowie auf die Funktionalität der einzelnen Komponenten“, erläutert der Webhoster 1&1 Ionos, eine Tochtergesellschaft des deutschen Internetkonzerns United Internet. Auch in Sachen Sicherheit und Datenschutz habe man „die Zügel nicht selbst in der Hand“.

Dieses letztgenannte Argument zieht umso mehr, wenn es sich um Anbieter jenseits der europäischen Grenzen handelt. Und das ist für den grundlegenden Bereich IaaS überwiegend der Fall. Vier Giganten sind es, die das Geschäft weitgehend unter sich ausmachen: Amazon, Microsoft, Alibaba und Google. 2017 erreichte dieses Quartett einen Marktanteil von fast 75 Prozent. Allein Amazon besetzte mehr als die Hälfte des Marktes für sich. Das hat auch damit zu tun, dass der Online-Händler auf eine lange Erfahrung zurückblicken kann. Vor mehr als einem Jahrzehnt startete Konzerngründer Jeff Bezos das Tochterunternehmen Amazon Web Services. Seitdem hat sich AWS zum führenden Anbieter im Cloud-Geschäft entwickelt. Ohne den Amazon-Ableger wären datenhungrige Videodienste nicht denkbar. Prominentestes Beispiel: „AWS hilft Netflix unter anderem dabei, innerhalb kürzester Zeit Tausende Server und mehrere Terabyte Speicher bereitzustellen“, betont Amazon. Mit einem Bereichsumsatz von mehr als 25 Milliarden Dollar trägt Cloudcomputing inzwischen maßgeblich zum Erfolg des Online-Händler bei.

Drei amerikanische Anbieter und ein chinesischer beherrschen den Markt – für Cloud-Skeptiker ein Unding. Das schon alleine deshalb, weil amerikanische Gesetze wie der sogenannte Cloud Act die dortigen Unternehmen verpflichten können, Daten auf Anfrage herauszugeben, selbst wenn sie außerhalb des Landes gespeichert sind. Auch solche Tatsachen mögen dazu beitragen, dass hiesige Unternehmen eine klare Präferenz haben: Laut dem Cloud-Monitor 2019 des Digitalverbandes Bitkom und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ist für 72 Prozent der befragten Unternehmen ein Rechenzentrum ausschließlich in Deutschland ein „Must-have“ bei der Auswahl eines Cloud-Anbieters. Das hört man bei Anbietern wie der Deutschen Telekom mutmaßlich gerne. 

Der Bonner Konzern hat bei Magdeburg gerade eine der größten Anlagen dieser Art erweitert. „Mit dem Ausbau unseres Cloud-Rechenzentrums in Biere stärken wir den IT-Standort Deutschland und investieren in das Wachstumsfeld Cloud“, berichtete das Unternehmen im vergangenen Herbst.
Trotzdem: Wie sollen im stark konzentrierten Cloud-Geschäft europäische oder deutsche Anbieter wirklich nachhaltig Fuß fassen? Die Bundesregierung will zumindest nicht kampflos klein beigeben. Das Wirtschaftsministerium führt dazu laut Ressortchef Altmaier Gespräche mit zahlreichen Unternehmen. Lobend hebt der Minister die Telekom und auch SAP hervor. „Das Ziel ist, dass wir in den nächsten Monaten eine klare Infrastruktur haben, ähnlich wie bei den Batteriezellen.“ Derzeit lotet Altmaier gemeinsam mit Ländern wie Frankreich, Schweden und Polen mehrere Konsortien zum Aufbau einer europäischen Batteriezellenfertigung für Elektroautos aus. Eine Milliarde Euro staatliche Anschubhilfe sind dafür allein in Deutschland vorgesehen. Ob und wie viel Steuergeld in den Aufbau einer europäischen Datencloud fließen soll, ist jedoch noch unklar. Fest steht nur: Es soll nicht bei der Speicherung großer Datenmengen bleiben. Nach Möglichkeit soll daraus irgendwann eine Art Airbus im Bereich der Künstlichen Intelligenz erwachsen, so heißt es im Politikersprech.






Altmaier war kürzlich bei SAP in Walldorf, um für eine eigene Dateninfrastruktur in Deutschland zu werben. Ausgerechnet Deutschlands IT-Vorzeigekonzern aber verfolgt eine andere Strategie. Das Unternehmen investiert zwar erhebliche Summen in Rechenzentren – gerade fast 120 Millionen Euro für neue Serverfarmen am Stammsitz Walldorf – tut dies aber ausschließlich mit Blick auf die eigene Kundschaft. SAP versteht sich gerade nicht als Infrastrukturanbieter für Cloud-Dienste, trotz seiner 52 Rechenzentren in 13 Ländern. Mehr noch: Um den Kunden den Umstieg in die Cloud zu erleichtern, hat der Konzern sich sogar geöffnet. SAP bietet den Kunden an, ihre Programme und Plattformen auch auf der Infrastruktur der sogenannten „Hyperscaler“ laufen zu lassen – namentlich Alibaba, Amazon, Google und Microsoft. /FAZ

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